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Geschichten rund um die alpine Spielwiese von St. Moritz

Pizza on Ice

Pizza on Ice

Von
Konstantin Arnold

Während sich ganz St. Moritz zum Schaulaufen für The I.C.E. 2025 traf, war Napoli, die ewig schöne und chaotische Stadt, plötzlich zu Gast vor der Chesa al Parc. Dort traf Schriftsteller Konstantin Arnold auf Ciro Oliva, den er aus Neapel kannte, wo dieser in der Concettina ai Tre Santi die besten Pizzen bäckt. Eine Spurensuche in Neapel und St. Moritz.

So weltoffen und baufällig bis in jeden einzelnen Backstein. So anmutig, und voller Gassen, die sich über Hügel schlängeln und versuchen, Ordnung in diese zügellose Romantik von Mauer, Marmor und Mensch zu bringen. Für die einen ist die Metropole am Vesuv die lauteste, chaotischste Meereshauptstadt der Alten Welt, vielleicht die grösste, bis die Pest kam und sie halbierte. Für die anderen der reinste Hedonismus. Stadt der Pizza, Capri, Penner, Sfogliatelle, Sommerliebe und Espresso, jenem Stoff, aus dem Abenteuerromane sind; ein Tor zur Antike, durch das die Sagen Homers Europas Festland betraten und uns bis heute als Anleitung zum Leben dienen.

Maler wie Lorrain und Catel schwärmten wie Kinder beim Anblick des Golfs, denn der heilt, wie ein Abend über Rom oder Skifahren in den Alpen. Neapel ist die Gegenwart einer Vergangenheit, die doch nie ganz vergangen ist, so wie Babylon oder Ninive. Schon beim Schreiben scheitert man an der Poesie aus Gegensätzen, dem Licht am Morgen und am Abend einer Welt, die hier jeden Tag neu geboren wird. Man scheitert an zu viel Leben, zu viel Tod, am Wein, an den Frauen und Widersprüchen aus Kirche und Kriminalität. Unbelehrbar, unregierbar, Anarchie und Action.

 

 

 

«Napoli, wie das schon klingt!»

Heilige im Neonlicht, bolzende Kinder, eine Frau im roten Kleid, eine Oma, die ihren Einkauf nach Hause trägt, mit Tomaten, die so rot leuchten, weil alles andere so russig ist. Dazwischen drei Männer auf einem Roller, Hupen und Italienisch, das eilig durch die Gasse geschrien wird. Noch mehr Roller, Aberglaube, Erdbeben, Camorra. Kabel, Wäscheleinen, Lichterketten, Maradona, Markisen und Müll, der hier seit dem 13. Jahrhundert schon rumliegt und selbst zu Neapel geworden ist. Dann wieder die Nonna, die wegen der Frau im roten Kleid fast von den drei Männern auf dem Roller überfahren wird. Der Blick der Männer ist erst böse und dann nett, die Blicke der Frauen wie ein Abgrund, in den man fallen kann. Der Anblick des Meeres hat ihre Augen blau gefärbt, trotz pechschwarzer Locken. Was für ein Chaos in den Gassen, aber um über die Gassen zu schreiben, muss man über die Pizza schreiben, ohne die Pizzen funktionieren die Gassen nicht. Die Stadt nimmt einen dadurch gefangen wie Körperwärme. Berauscht von Hoffnung und menschlichen Fähigkeiten. Kein Schmerz, der hier nicht schon erlebt, der hier nicht schon überwunden wurde, keine Hoffnung, die hier nicht schon von irgendjemandem gehofft wurde. So soll man sich den Geheimnissen der Gassen hingeben, die einem als Zufälle getarnt begegnen. Und alledem gegenüber liegt das sanfte, unbeeindruckte, mittelmeerblaue Meer, mit Frauenstatuen, die davor halbnackt Laternen halten.

 

 

«Ohne die Pizzas funktionieren die Gassen nicht.»

Freundet man sich, beim Pizzaessen oder beim Versuch, im Glanz der Seuchenstadt die besten Lokale zu finden, mit einem echten Neapolitaner an, lernt man diesen oder jenen kennen, muss hier essen und dort und unbedingt noch das probieren, und das und dies und das dazu trinken. Man landet in Hinterräumen, fährt helmlos Motorrad, betritt nationale Monumente und Paläste, die mit einem Zwinkern bezahlt werden, gratuliert auf Hochzeiten, endet auf Beerdigungen und speist, früher oder später, am Esstisch von Ciro Oliva.

 

 

 

«Ein Virtuose mit Liebe zum Detail…»

Es gibt viele ausgezeichnete Pizzaioli in Neapel, aber dieser junge Pizzabäcker kommt ohne Vergleiche aus. Vielleicht weil er für Neapel steht und die Energie der Stadt verkörpert wie kaum ein anderer. Ciro ist ein detailverliebter Virtuose, einer, der beim Reden aufsteht und gestikuliert, als wäre er in einem Boxkampf, dritte Runde. Vielleicht weil er so ist, wie Leute sonst nur sind, wenn sie Kokain nehmen. Er ist die vierte Generation seines Familienbetriebs. Gegründet 1951 von einem Schuhmacher, dessen Frau, Donna Concetta, mit Einfallsreichtum und Entschlossenheit das Rezept für «a ogge a otto» («Iss heute und zahl in acht Tagen») entwickelt hat, um ihrem Mann bei der Erziehung der Familie zu helfen. Schon mit 18 übernahm Ciro die Pizzeria, die nach seiner Urgrossmutter Concettina benannt ist, und machte sich schnell einen Namen. Heute gilt der einfache Junge aus Sanità, mit einem Herz voll Leidenschaft und einem Kopf voller Ideen, als bester Pizzabäcker der Welt. Die Leute kommen mit dem Helikopter zum Lunch. Fussballspieler, Berühmtheiten, aber Ciro behandelt jeden, als wäre er berühmt. Ich ass ein paar Mal bei ihm, mit ihm und ohne ihn, aber die Male, die ich mit ihm gegessen habe, werde ich nie vergessen.

Die Folge: 2023 kauft Remo Ruffini 47,5 % der Anteile seiner Pizzeria für Millionen, Jay-Z und Beyoncé fliegen ihn (so das Gerücht) ein, damit er für sie auf einer Party Pizza bäckt, und das Kulm Hotel St. Moritz hat ihn neulich mit einem Pop-up während des The I.C.E. 2025 geehrt. Dass Ciro früher oder später in St. Moritz landen musste, scheint als die logische Ordnung der Dinge. Man stellt sich vor, wie ein Lastwagen voll Neapolitaner einen Pizzaofen, Tomaten und Mozzarella über die Grenze fährt. Was für ein Theater, das sich zwischen Himmel und Erde abspielt. Und wer ist so irre, so was zu realisieren?

Natürlich das Kulm, und das schreibe ich nicht nur, weil sie mich dafür bezahlen. Die kulinarischen Fühler des Hotels reichen bis in alle Welt, von Sardinien bis Capri, den Bergen im Hinterland der Provence bis nach St. Tropez, Como, Tokio, Nahost und Asien. Es bot seinen Gästen das, was sie wollten, selbst wenn manche von ihnen zu jenem Zeitpunkt noch nicht wussten, was das genau ist: ein immaterielles Weltkulturerbe, Pizza on Ice. Die irre Idee führte im Februar von den Mittagsstunden bis in den späten Nachmittag hinein zu neapolitanischen Zuständen vor der Chesa al Parc.

 

 

 

«Ein Schauspiel, das zwischen Himmel und Erde schwebt.»

Das auffällige, farbige Branding der Pizzaschachteln, Shirts und Pullover war im gesamten Bergdorf zu sehen. Gelb, Blau und Rot sind Farben, die im Schnee genauso rausstechen wie die Tomaten Neapels. Die Menschen assen an Tischen mit fröhlichen Gesichtern und die, die noch hungrig und nicht fröhlich waren, rannten hin, um noch ein Stück zu ergattern. Directeur d’Ambiance Arman Naféei sorgte für den nötigen Rest, unterstrichen vom schönen Wetter. Die Leute vor der Chesa al Parc liessen die Orte, an denen sie assen, zu richtigen Plätzen werden. Ein Stück von Ciros Pizza in den Bergen schmeckt dann wie Sfogliatella am Morgen am Golf von Neapel. Zwar ohne Sorrent in der Ferne oder Capri, aber dafür mit dem Piz da la Margna im Blick und dem Piz Nair im Rücken. Malojawind wehte, kein Scirocco, wobei der eigentlich auch nie weht, der drückt sich heran, trägt Wind aus Afrika faul übers Meer, hält die gesammelte Hitze der Wüste fest, will Neapel immer zum Erliegen bringen und zum Aperitivo zwingen.

Der Tag neigt sich dem Ende, ein goldener Dunst bleibt wie der Rest von Träumen am Tag zurück. Man kann so nur abergläubisch werden und sich hoffnungsvoll an Mythen hängen. Pizzaessen, Espresso mit den Alten trinken. Der Todesdrohung des Vesuvs brodelndes Leben entgegenhalten und eine Margherita in der Concettina ai Tre Santi essen oder auf 1856 Metern über dem Mittelmeer, wenn man nicht bis Neapel fahren kann. Aber wer Neapel so gesehen und geschmeckt hat und nicht liebt, sagen die Alten, kann ruhig woanders sterben.

Über den Autor


Konstantin Arnold ist freier Autor. In bester Tradition reisender Literaten vergangener Tage zieht des den 34-jährigen an die Hotelbars zwischen Französischer Riviera und Schweizer Alpen.