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Sommer Journal
Unsere alpine Spielwiese

Unsere alpine Spielwiese

Von
Michela Meni &
Gianmarco Dodesini Valsecchi

Der Berg und die Zeit

Es gibt Orte, die Teil unserer Geschichte werden, weil sie uns Zeit in ihrer reinsten Form schenken. Für uns ist das Engadin der perfekte Rückzugsort, an dem wir echte familiäre Verbundenheit erleben können, fernab von Bildschirmen und Ablenkungen, inmitten der Natur, die zum Entdecken und Austauschen einlädt. Das Kulm Hotel ist unser Refugium, wo die Zeit langsamer läuft und wir den Sommer so erleben können, wie er sein sollte.

Jedes Jahr kehren wir zurück, um die Freude an den einfachen Dingen wiederzuentdecken: Aufwachen, wenn das Sonnenlicht durch die Vorhänge schimmert, Wandern auf alpinen Pfaden, Eintauchen in kristallklare Seen und gemeinsame Erinnerungen. Dies ist nicht die Geschichte eines einzelnen Tages, sondern eine Sammlung von Momenten, die für uns die wahre Bedeutung von Familienzeit ausmachen.

Wir sind zu dritt: Michela, Gianmarco und Anita – unsere kleine Entdeckerin. Jede Reise, die wir gemeinsam hierher unternehmen, ist Teil eines grösseren Mosaiks, das sich Jahr für Jahr aus gemeinsamen Erlebnissen zusammenfügt und unsere Bindung an diese Berge vertieft.

«...der Himmel zeigt sich in einem einzigartigen Blauton.»

Hier in der Höhe fliesst die Zeit nicht – sie gleitet. Sie ist ein weicher Stoff, geformt von unseren Händen und Herzen. Am ersten Morgen wachen wir langsam auf. Anita ist schon wach und möchte raus. Wir lassen uns Zeit, geniessen den Luxus des allmählichen Erwachens, diesen ausgedehnten Moment, in dem sich Schlaf in Realität verwandelt.

Wir treten nach draussen. Die Luft ist frisch, aber nicht beissend, der Himmel in einem einzigartigen Blauton. Wir spazieren gemächlich durch das Zentrum von St. Moritz und betrachten das Spiegelbild der Berge im stillen See. Wir halten uns an den Händen, eine Geste, die keine Worte braucht und doch alles beinhaltet.

Vor uns taucht nun der Corvatsch auf, ein Berg, den wir mit dem Bus erreichen. Die Fahrt ist für uns bereits Teil des Erlebnisses: die Landschaft durch das Fenster zu beobachten, wie sie sich entfaltet, wie die Berge näher kommen, wie sich die Täler vor uns öffnen. Das Reisen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln im Engadin ist ein Vergnügen – eine Möglichkeit, das Land ohne Eile zu erleben und sich zum Herzen dieser wunderbaren Orte tragen zu lassen.

Der Aufstieg

Wir fahren mit der Seilbahn hinauf nach Murtèl und beobachten, wie sich unter uns ein scheinbar endloses Panorama auftut. Von dort aus folgen wir dem Pfad, der zur Fuorcla Surlej führt – ein schmaler Durchgang zwischen den Felsen, der wie ein Tor zu einer anderen Welt wirkt.

Anita läuft voraus und entdeckt in jedem Stein und jedem Ast ein Wunder. Wir folgen ihr mit dem gleichmässigen Tempo derer, die wissen, dass Berge nicht erobert, sondern respektiert werden. Der lange Weg zur Chamanna Coaz ist eine Reise des Atems, der Stille und der Schritte, die durch die Zeit hindurch klingen. Immer wieder sehen wir Anita über ein kleines verstecktes Wunder am Wegesrand lachen, und wir tauschen Blicke aus, weil wir wissen, dass dies unsere wahre Reise ist, ohne Worte.

Während wir aufsteigen, wird der Kopf frei. Die Welt reduziert sich auf ihre wesentlichen Elemente: den Atem, den Herzschlag, das Geräusch der Schritte auf der Erde.

Dann, fast plötzlich, taucht Chamanna Coaz auf – eine einsame Zuflucht, ein menschlicher Aussenposten in einer urzeitlichen Landschaft. Bevor wir sie erreichen, belohnt uns der Weg mit einem aussergewöhnlichen Blick auf den Biancograt und die Gletscher des Piz Bernina, eine in der Sonne schimmernde Eisfläche. Wir verharren einen Moment in Stille, fasziniert von der Erhabenheit des Berges. Als wir uns der Hütte nähern, blicken wir auf und sehen zwei Adler über uns, die mit eleganten, kraftvollen Bewegungen durch die Luft gleiten. Hier spricht der Wind seine eigene Sprache, und wir bleiben stehen, um ihm zu lauschen. Wir setzen uns und lassen uns von dem Panorama einhüllen. Anita lehnt sich an uns, vertieft in die Weite vor ihr. Wir fühlen uns verbunden, ruhig und sehr lebendig.

Nachdem wir uns ausgeruht haben, setzen wir unsere Reise fort und beginnen den Abstieg durch das Val Roseg – einen einzigartigen Naturpark, ein Refugium des Friedens inmitten der reinsten Natur. Der Weg windet sich sanft durch Wälder und an Bächen entlang. Auf halber Strecke finden wir unseren Lieblingsplatz: eine kleine Lichtung am Fluss, wo wir anhalten, um mit Steinen Dämme zu bauen und uns zu sonnen. Der Klang des Wassers hallt von Anitas Händen wider, die kleine provisorische Hindernisse in die Strömung legt, und vermischt sich mit unserem Lachen und dem Rauschen des Windes in den Bäumen. Wir strecken uns im Gras aus, lassen uns von der Sonne das Gesicht wärmen und geniessen eine letzte Pause, bevor wir uns auf den Weg ins Tal machen.

Schwimmen im Stazer See

Es gibt Momente, in denen die Zeit mit dem Glück verschmilzt. Wir erreichen den Stazer See – ein kleines, in den Wald eingebettetes Gewässer. Die Atmosphäre ist ruhig, das Sonnenlicht bricht durch die Blätter und der Wind kräuselt sanft die Oberfläche des Sees.

Anita stösst einen freudigen Schrei aus und taucht ein, wir dicht hinter ihr. Das Wasser ist kühl und umhüllend. Wir lachen, bespritzen uns gegenseitig und geben uns der Leichtigkeit des gemeinsamen Spiels hin. Später, müde, aber glücklich, liegen wir im warmen Gras und sehen den Wolken zu, die über uns hinwegziehen. Ein Moment perfekter Harmonie, der sich in unser Gedächtnis einbrennt.

«Manche Orte schliesst man einfach ins Herz...»

Jedes Jahr kehren wir von Muottas Muragl aus zur Chamanna Segantini zurück, um den Nervenkitzel des Aufstiegs zu erleben und uns in dieser zeitlosen Landschaft neu zu entdecken.

Die Standseilbahn startet im unteren Tal und taucht aus dem Wald auf, wo sich plötzlich eine unglaubliche Aussicht bietet. Anita liebt es, im untersten Teil der Kabine zu sitzen, um die Explosion von Licht und Farben zu beobachten, wenn sich die Bahn durch die dichten Bäume schiebt.

Der Aufstieg ist immer derselbe, aber jedes Jahr fühlt er sich anders an. Anita ist älter, ihre Beine stärker, ihr Blick aufmerksamer.

Oben angekommen, setzen wir uns auf unsere übliche Bank. Die Hütte ist nach dem Maler Segantini benannt, der das Licht des Engadins in seinen Gemälden eingefangen hat. Als Anita das erste Mal hier hochkletterte, war sie erst vier Jahre alt. Sie war klein, aber entschlossen, und dieser Aufstieg war ihre erste echte Begegnung mit den Bergen. Und jetzt wissen wir jedes Mal, wenn wir dieses grenzenlose Panorama betrachten, dass wir wiederkommen werden. Denn es gibt Orte, die mit dem Herzen verbunden sind – und dies ist einer von ihnen.

Der letzte Tag

Es gibt immer einen letzten Tag. Wir haben es von Anfang an gewusst, aber wir versuchen, nicht daran zu denken.

Das Frühstück im Kulm ist einer der magischsten Momente. Der geräumige, verglaste Speisesaal erzählt seine eigene Geschichte, mit grossen Fenstern, die einen Rahmen um die sich ständig verändernde Landschaft wie um ein bewegtes Gemälde bilden. Wenn man am Fenster sitzt, verliert man sich in der atemberaubenden Aussicht. Am Morgen tanzt das Licht auf dem Wasser und erzeugt immer neue Spiegelungen, die die Zeit in einem perfekten Augenblick anzuhalten scheinen.

Als wir unsere Taschen ins Auto laden, sieht Anita uns an und sagt: «Was wäre, wenn wir noch einen Tag bleiben würden?»

Wir tauschen Blicke aus und lächeln.

Das Engadin ist: ein Ort, der uns gelehrt hat, gemeinsam Zeit zu erleben, sie als das zu erkennen, was sie wirklich ist: ein Geschenk. Ein Band. Eine Geschichte, die wir Jahr für Jahr schreiben, Schritt für Schritt, Hand in Hand.

Über die Autorin und den Autor

Michela Meni ist Designerin nachhaltiger Kleidung und Fotografin mit Sitz im Norden Italiens, ihr Partner Gianmarco Dodesini Valsecchi ist als Director of Photography tätig.