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Stories
The Grand Restaurant

Das Grand Restaurant

Von
Konstantin Arnold

Eine Betrachtung der zeitlosen Eleganz grosser Hotelerlebnisse, bei denen makelloser Service und persönliche Verbindungen unvergessliche Momente schaffen.

Manchmal funkt es mit Restaurant-Chefs nicht. Nicht, dass die nicht alle sehr nett wären, aber ich stehe auf die alte Sorte, italienisch, weisshaarig, mit melancholischen Rehaugen. Leute, die dir alles über diesen oder jenen Ort erzählen und solange hier sind, dass sie selbst zu diesem Ort geworden sind und für ein Lebensgefühl stehen. Aber genau so jemand arbeitet hier. Man ist angekommen, hat sich frisch gemacht, seinen Apéro getrunken und das leise Ballett der Kellner ist bereits in vollem Gange, die Jacketts vom Tag für die Nacht verdunkelt. Leicht und graziös, organisiert wie der Mossad. Meiner Meinung nach Europas schönstes Schauspiel.

Kerzen brennen, die Sommeliers tragen Fliegen, die Restaurantchefs Schwarz, im Hintergrund spielt wer Klavier, alles wie immer, wenn es sonst schon nichts ist. Man sitzt vor altem Silber, sieht auf diese gewaltige holzvertäfelte Decke, legt die Serviette über den Schoss und wartet, dass Angelo mit der Weinkarte kommt. Er bringt mir gleich einen Schweizer Spätburgunder zum Probieren in einem kleinen Achtelglas, genau wie ich’s gerne habe. Er sagte, er hätte das irgendwo über mich gelesen und auch dass ich mir selber einschenk’. Ich verliebte mich von Anfang an in diesen Mann. Ich verliebte mich in seine Höhe, die geraden Schultern, das kurze graue Haar. Er war Italiener und hatte dieses Butler-Gen einer alten Welt, das man nur angeboren bekommt, Haltung statt Höflichkeit. Den Sommer über arbeitet er in der Villa d’Este. Er tat das, was die anderen Kellner auch tun, nur ohne zu schwitzen, ohne das Fallenlassen, mit Grandezza, aber er brauchte die anderen und ihre Fehler auch dazu, um so zu sein. Er zeigte mir ein Video von der Champs Élysée, dem gerade eröffneten Yves Saint Laurent Shop oder Louis Vuitton, was weiss ich, der der aussieht, wie ein grosser Koffer und bei Nacht glitzert. In jeder anderen Situation hätte mich das nicht interessiert, aber ich war eben gerade da und bin, mit meiner Freundin bei Nacht die Strasse runtergegangen. Wir sprachen noch über viele andere Orte. Für ihn wars Pompei, Sardinien und Nizza. Für mich Paris, Wien, Mailand, Antibes, Madrid und San Sebastián. Wenn ich nicht mindestens einmal im Jahr im Lilas sass, ums Cap d’Antibes schwamm, im Camparino an der Bar trank, was im Sperl las, durch den Retiro ging, Matisse Balkone sah, bei Tito ass oder am Lago di Como darüber nachdachte mit meiner Freundin Schluss zu machen, ging bei mir gar nichts. Es war wunderbar mit ihm in diesem Saal darüber zu reden.

 

 

 

«Bis morgen Signore, den Rest stelle ich Ihnen kalt.»

Das Kerzenlicht wurde von den Holzdecken mit noch mehr Wärme in den Raum zurückgeschleudert und draussen, vor den grossen Fenstern lag der zugefrorene See in der Nacht. Angelo kam immer an und fragte, was ich von dieser oder jener Sache hielt, dem Skifahren oder Macron oder Hotelrestaurants und Trottoiren und nickte, so als wäre unsere Übereinstimmung von nun an ein Geheimnis, das uns beide verbindet. Natürlich musste er oft weg. Da ist ein Geben und Deuten von Zeichen zwischen den Kellnern. Wenn alle perfekt tun und was passiert, eine Gabel runterfällt oder jemand den falschen Wein bekommt, ist das ein Eklat. Das ist peinlich, also nicht, dass etwas passiert, sondern dass nur wenige damit umgehen können. Angelo konnte das, aber das geht nur mit Erfahrung und wenn man viele Menschen kennt und sie einzuordnen weiss. Am Ende sagte er: «Bis morgen Signore, den Rest stelle ich Ihnen kalt.» Er sagte es, als wäre es eine Versicherung, dass es Europa und Wein auch morgen noch gibt.

Am Morgen weckte mich die Hausdame. Das störte gar nicht. Sie sagte «Desculpe» und «Bom Dia», meine dunklen leidenschaftlichen Portugiesen waren überall. Ich antworte auf Portugiesisch, dass das gar nichts mache und eh frühstücken wollte und das Frühstück, was für ein Traum. Nicht das Essen, denn ich esse morgens kaum, aber der Saal und was sonst stattfand. Draussen war das frühe Blau des Tages hinter durchsichtigen Gardinen und hier drinnen das der Kronleuchter und weissen Jacketts mit goldenen Abzeichen auf den Schultern der Uniformen. Er war wie auf der Titanic. Grandhotels sind Bühnen, auf denen sich die Geschichte am liebsten abspielt. Sie leuchten wie weisse Botschaften der Zivilisation an den Küsten dieser Welt und stehen in Städten wie Konsulate, die man benutzen und anfassen und dreckig machen darf. Sie dampfen wie grosse Schiffe in den Bergen, die durch die Zeit fahren und transportieren die Gegenwart einer längst vergangenen Zeit, damit es die Welt von gestern, auch morgen noch geben darf. Sie bewahren längst vergessene Höflichkeiten, halten ausgestorbene Professionen mit Liebe am Leben und haben etwas Verlorengegangenes und doch Überlebensnotwendiges an Bord – wie eine Arche. Zwischen klassischen Häusern wie dem Kulm und neureichen Hotels, in die Leute nur gehen, um reich zu sein, liegt ein Unterschied in Form einer Wahrheit, die jeder selbst entdecken muss, in dem er herausfindet, welche Wahrheit überhaupt gemeint ist. Sie ist auf jeden Fall nicht mit Geld gleichzusetzen, ausser für Leute, die den Wert von etwas nicht kennen, oder nur, wenn sie wissen, was etwas wiegt, welches Mass es misst oder wie viel es kostet.

Über den Autor

Konstantin Arnold ist freier Autor in Lissabon und schreibt literarische Reportagen aus aller Welt – für Tageszeitungen, Magazine und für die guten Oliven und den portugiesischen Rotwein am Freitagabend. Nach Studien in Deutschland, Neuseeland, Australien und Portugal verliebt er sich 2017 in Oliven und Literatur, wird etwas sesshafter und arbeitet seither an seinem Buch Briefe aus Lissabon. Auch wenn er behauptet, nur in Lissabon zu reisen, zieht es den 30-Jährigen – vom Tresen eines Grandhotels aus betrachtet – doch immer wieder hinaus in die Welt.